Die kleine rituelle Waschung

Die kleine rituelle Waschung (auch bekannt als Gebetswaschung; arab.: Wuḍūʾوُضُوء, türk.: abdest) dient der Wiederherstellung der kleinen rituellen Reinheit. Die (kleine und große) rituelle Reinheit bildet die erste Vorbedingung für das rituelle Gebet.

Die Pflichtbestandteile

Die kleine rituelle Waschung besteht aus vier Pflichtbestandteilen:

  1. das Gesicht waschen
  2. die Hände bis einschließlich der Ellbogen waschen
  3. ein Viertel des Kopfes befeuchten
  4. die Füße bis einschließlich der Knöchel waschen

Als Textgrundlage für diese Liste ziehen die ḥanafitischen Gelehrten folgenden Koranvers heran:

يَا أَيُّهَا الَّذِينَ آمَنُوا إِذَا قُمْتُمْ إِلَى الصَّلَاةِ فَاغْسِلُوا وُجُوهَكُمْ وَأَيْدِيَكُمْ إِلَى الْمَرَافِقِ وَامْسَحُوا بِرُءُوسِكُمْ وَأَرْجُلَكُمْ إِلَى الْكَعْبَيْنِ ۚ […]

»O ihr, die ihr glaubt! Wenn ihr euch zur (Verrichtung des) Gebets aufstellt, wascht euch [1] das Gesicht und [2] die Hände bis zu den Ellbogen und streicht euch (feucht) über [3] den Kopf, und (wascht ebenso) [4] die Füße bis zu den Knöcheln! […]«
(Koran 5,6)

Das Gesicht

Das Gesicht ist defnitiert als der Bereich des Kopfes, der vom Haaransatz (bei Haarausfall der ursprüngliche Haaransatz) bis zum unteren Ende des Kinns, und vom rechtem bis zum linkem Ohransatz reicht. Das Innere der Augen ist aufgrund von »Erschwernis und Befürchtung von Schaden« (مَشَقَّةٌ وَ خَوْفُ الضَّرَرِ) von der Reinigung ausgeschlossen. Der schmale Bereich zwischen den Koteletten und dem Ohransatz wird zum Gesicht gezählt und muss deshalb ebenfalls gewaschen werden. (Imam Abū Yūsuf, der Schüler Imam Abū Ḥanīfas, zählt diesen Bereich nicht zum Gesicht, weshalb die kleine rituelle Waschung seiner Ansicht nach auch dann gültig ist, wenn dieser Bereich nicht vom Wasser berührt wird. Diese Position ist nicht der Standard innerhalb der ḥanafītischen Rechtsschule; sie kann aber in Ausnahmefällen rückwirkend befolgt werden, wenn man diesen Bereich in der Vergangenheit beispielsweise nicht gewaschen hat und ansonsten bereits verrichtete Gebete wiederholen müsste.)

Ellbogen und Knöchel

Das Wort ›bis‹ in »die Hände bis zu den Ellbogen« und »die Füße bis zu den Knöcheln« wird bei den Ḥanafīten als ›bis einschließlich‹ interpretiert, weshalb der gesamte Bereich von den Fingerspitzen bis einschließlich der Ellbogen und der gesamte rechte und linke Fuß bis einschließlich der Knöchel gewaschen werden müssen.

›Waschen‹ versus ›Befeuchten‹

Waschen‹ (arab.: Ġaslغَسْل) ist definiert als ›Wasser zum Fließen bringen‹ (arab.: Isālatu l-Māʾإِسَالَةُ الْمَاءِ). Das heißt, die Hand, mit der der Arm oder das Gesicht oder die Füße gewaschen werden, muss so viel Wasser aufnehmen, dass sie nicht nur feucht, sondern tatsächlich nass ist. Als Richtmaß gilt hier: Wenn mindestens drei Tropfen Wasser von der Hand herabtropfen, so gilt sie als nass. Überdies bedeutet das ›Waschen‹ eines Körperteils grundsätzlich immer, dass das Körperteil vollständig gewaschen werden muss. Das heißt, für die Erfüllung der Pflichtbestandteile ist es erforderlich, dass der gesamte als Gesicht definierte Bereich, der gesamte rechte und linke Arm von den Fingerspitzen bis einschließlich des Ellbogens und der gesamte rechte und linke Fuß bis einschließlich der Knöchel nass werden muss.

Dem »Waschen« gegenüber steht das »Befeuchten« bzw. »(feucht) bestreichen« (arab.: Masḥمَسْح). Dieses ist definiert als das ›Berühren‹ oder ›Erreichen‹ (arab.: Iṣābāh – ْإِصَابَة) einer Körperstelle durch Wasser. Beim Befeuchten muss die befeuchtende Hand also im Gegensatz zum Waschen nicht tropfend nass sein.

Der Kopf

Der ›Kopf‹ ist definiert als der über der Höhe der Ohren befindliche Bereich, der nicht zum Gesicht gehört. Der Grund, warum bei den Ḥanafīten nur mindestens ein Viertel des Kopfes befeuchtet werden muss, liegt in der sprachlichen Bedeutung von »وَامْسَحُوا بِرُءُوسِكُمْ«, was wortwörtlich bedeutet, ›und streicht mit euren Köpfen‹. Um also mit dem Kopf eine Hand zu bedecken, benötigt man nur eine Fläche, die so groß wie eine Handfläche ist, was dem Viertel des Kopfes entspricht.


Die Sunnah-Bestandteile

Die kleine rituelle Waschung hat eine Reihe von Sunnah-Bestandteilen. Diese stellen keine Pflicht dar, weshalb die Waschung auch ohne die Sunnah-Bestandteile gültig ist. Dennoch stellen sie eine Gelegenheit dar, mit der man dem Beispiel des Propheten (Allah segne ihn und schenke ihm Heil) folgen und die Waschung vervollkommnen kann:

Allgemein:

  • die im Koran erwähnte Reihenfolge einhalten (Gesicht → Arme → Kopf → Füße)
  • die Körperteile nacheinander ohne Unterbrechung waschen
  • die Körperteile mit reibender Bewegung waschen
  • generell dreimal waschen (Gesicht, Arme, Füße, Nase, Mund)

Anfang:

  • vor der Waschung eine Absicht fassen (z. B.: die rituelle Waschung durchzuführen; die rituelle Reinheit wiederherzustellen; Gottes Gebote zu befolgen)
  • beide Hände dreimal bis einschließlich der Handgelenke waschen
  • im Namen Gottes beginnen (›bismi l-lāh‹ oder ›bismi l-lāhi r-Raḥmāni r-Raḥīm‹)
  • Mund und Nase dreimal mit frischem Wasser ausspülen
  • zusätzlich zum Ausspülen des Munds die Zähne Putzen

Während der Waschung:

  • nach dem Waschen des Gesichts mit den feuchten Fingern durch den Bart fahren
  • nach dem Waschen der Hände und Arme die Zwischenräume der Finger waschen
  • den gesamten Kopf feucht bestreichen (über das Minimum von einem Viertel des Kopfes hinaus)
  • mit derselben Feuchtigkeit die Ohren und den Nacken feucht bestreichen
  • nach dem Waschen der Füße die Zwischenräume der Zehen waschen

(Quelle: Faraz Rabbani: The complete ablution (wudu), Stand: 11.08.2016)


Was die kleine rituelle Waschung ungültig macht

Die folgenden Dinge machen die kleine rituelle Waschung ungültig. Das heißt, nachdem diese Dinge vorgefallen sind, muss die Waschung erneuert werden, um die Bedingung für das Gebet wieder zu erfüllen:

  1. alles, was aus der hinteren und vorderen Körperöffnung austritt (Blut, Kot, Urin, Fremdkörper und Darmwind; ausgenommen davon ist Luft, die aus der vorderen weiblichen Körperöffnung austritt)
  2. unreine Substanzen (Blut, Eiter), die aus anderen Stellen des Körpers herausfließen, aktiv (von alleine) oder effektiv (so dass die Substanz geflossen wäre, wenn sie nicht weggewischt worden wäre)
    1. Blut aus dem Mund, sofern die Farbe den Speichel überwiegt (dies ist dann der Fall, wenn die Farbe des Speichels näher an Rot oder Pink als an Gelb ist)
  3. mehr als einen Mundvoll erbrechen (dies ist dann der Fall, wenn das Erbrochene nicht mehr ohne Weiteres im Mund zurückgehalten werden kann)
    1. Blut oder Eiter erbrechen (selbst wenn das Erbrochene weniger als ein Mundvoll ist)
  4. liegend oder angelehnt schlafen (sitzend schlafen bricht nach ḥanafītischer Mehrheitsmeinung die kleine rituelle Reinheit nicht, solange das Gesäß fest aufsitzt)
  5. Bewusstlosigkeit
  6. Wahnsinn
  7. Trunkenheit
  8. für andere hörbares Lachen in einem Gebet, das eine Niederwerfung enthält , seitens eines Erwachsenen
  9. intimer Körperkontakt, bei dem die Geschlechtsteile sich berühren (dies macht zugleich die große rituelle Reiheit ungültig)

(Quellen: Faraz Rabbani: The Absolute Essentials of Islam. White Thread Press 2011, S. 25-26; Abū ’l-Ikhlāṣ al-Shurunbulālī: Marāqī ’l-Saʿādāt. Translated by Faraz A. Khan. White Thread Press 2010, S. 47.)

›Austreten‹ versus ›Herausfließen‹ von Substanzen

Bei den vorderen und hinteren Körperöffnungen (Punkt 1) macht bereits das Heraustreten von Substanzen die kleine rituelle Reinheit ungültig. Das heißt, sobald die Substanz von außen sichtbar ist, wird die kleine rituelle Reinheit ungültig. Bei anderen Körperstellen (z. B. eine Wunde am Finger) wird die kleine rituelle Reinheit erst dann ungültig, wenn die unreine Substanz herausfließt. Das heißt, wenn Blut an einer Körperstelle außer den vorderen und hinteren Körperöffnungen von außen sichtbar wird, ist die kleine rituelle Reinheit noch nicht ungültig; sondern erst, wenn sie fließt (oder effektiv geflossen wäre, wenn man sie nicht aufgehalten hätte).

Der islamrechtliche Grund für die Invalidierung der Reinheit

Der islamrechtliche Grund (arab.: ʿillah – عِلَّة) dafür, dass die kleine rituelle Reinheit verloren geht, ist stets das (potenzielle oder tatsäliche) Austreten von unreinen Subtanzen. Aus diesem Grund macht Schlaf die kleine rituelle Reinheit in der ḥanafītischen Rechtsschule nicht per se ungültig (Näheres dazu im nächsten Abschnitt). Bewusstlosigkeit, Wahnsinn, Trunkenheit und intimer Körperkontakt wiederum machen die kleine rituelle Unreinheit also deshalb ungültig, weil in diesen Zuständen – potenziell oder tatsächlich – unreine Substanzen aus dem Körper austreten können.

Das hörbare Lachen im Gebet stellt hier eine Ausnahme dar, die auf konkrete prophetische Überlieferungen (Ḥadiṯe) zurückgeht, denn hier treten keine unreinen Substanzen aus dem Körper heraus.

Schlaf

Die kleine rituelle Reinheit gilt nur dann als aufgehoben, wenn man tief und entspannt schläft (da hier die Gefahr besteht, dass beispielsweise ungehindert und unbemerkt Darmwind entweichen kann); nicht aber, wenn man nur leicht schläft (so dass man seine Umgebung noch wahrnimmt) oder sitzend schläft (so dass das Gesäß fest auf einem Untergrund aufsitzt).


Quelle: Die Inhalte dieser Darstellung beruhen auf den Erläuterungen von Shaykh Faraz Rabbani aus seinem Online-Kurs über ḥanafītisches Recht in Bezug auf den Gottesdienst (Islamic Law for Seekers (Hanafi): Worship) auf SeekersHub.org, welche sich hauptsächlich auf das Werk Al-Muḫtar des ḥanafītischen Rechtsgelehrten Abu l-Iḫlāṣ Ḥasan aš-Šurunbulālī (599-683 n.H.) sowie dessen Kommentar dazu, Al-Iḫtiyar li taʿlīl al-Muḫtar, und weitere Werke über ḥanafītisches Recht stützen.

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